Im Sauerland leben viele Menschen, deren Wurzeln im heute polnischen Schlesien liegen. Viele meiner Bekannten und Freunde haben, wie ich Großeltern, die nach dem Krieg aus Schlesien flüchten mussten und sich im Sauerland eine neue Heimat aufgebaut haben.

 

Dass meine Oma aus Schlesien kommt, ist eigentlich nur einmal im Jahr Thema und zwar dann wenn es in der Vorweihnachtszeit darum geht, was es denn bei uns am Heiligen Abend zu essen gibt. Meine Oma macht ein klassisches schlesisches Gericht, das wir alle lieben und das es auch nur einmal im Jahr gekocht wird. Es gibt schlesische Weißwürste und Mettwürsten, dazu Sauerkraut und auf das Graubrot, das in kleine Stücke gerissen wird, kommt eine ganz besondere Soße. Die sogenannte Tunke. Das ist eine sehr reichhaltige Soße nach Familienrezept. Enthalten sind verschiedene Gemüsesorten und allerlei Dinge, die dick machen und total lecker sind. Das Essen ist für uns alle etwas absolut Besonderes, wir freuen uns schon Wochen vorher darauf und dann essen wir vor der Bescherung so viel, bis wir uns nicht mehr bewegen können. Eine wunderbare Tradition.

Auf jeden Fall stellt sich jedes Jahr über dieses „Was gibt es an Heilig Abend bei euch zu essen“- Gespräch heraus, wie viele meiner Freunde, Kollegen und Bekannten Großeltern haben, die ursprünglich aus Schlesien kommen und im Sauerland eine neue Heimat gefunden haben. Ich finde das total spannend und obwohl meine Oma ab und zu mal etwas von Früher erzählt hat, kannte ich ihre Geschichte bisher nie so wirklich im Detail. Das wollte ich unbedingt ändern und habe mit meiner Oma mal ein kleines Interview geführt. Vielleicht findest du ja Ähnlichkeiten zu den Geschichten deiner Großeltern.

 

Eine spannende Geschichte vom Leben in Schlesien und der Flucht nach Sundern

Meine Oma im Kurzporträt: Sie ist 83 Jahre alt und der allerliebste Mensch auf der Welt. Einfach die perfekte Oma, die alles für meine Schwester und mich gemacht hat, als wir noch Kinder waren und uns heute immer noch jeden Wunsch von den Augen abliest.

Oma, wo genau habt ihr gewohnt?

In Gusten im Kreis Ohlau. Das lag etwa 30 Kilometer von Breslau entfernt.

Wie war denn das Leben dort so vor dem Krieg?

Wunderschön, es war ein kleines Dorf. Mein Vater hatte die Bäckerei im Ort und es gab eine Schule, zwei Kneipen und zwei Lebensmittelgeschäfte.

 

Schlittenfahren im kalten schlesischen Winter

Der Winter in Gusten war oft lang und kalt und Schlitten fahren gehörte
zu den liebsten Beschäftigungen der Kinder.

 

Wann seid ihr zum ersten Mal geflohen und vor wem genau?

Das war am 25. Januar 1945. Ich war 10 Jahre alt und weiß noch genau, wie bitterkalt es war und dass meterhoch Schnee lag. Die Polen sind in unser Dorf eingefallen und deshalb ist das ganze Dorf geflohen. Eigentlich war mein Vater aus dem Krieg entlassen, zur Brotversorgung, weil er ja Bäcker war. Aber als wir fliehen mussten, war er doch zum Volkssturm eingezogen worden und so sind wir Kinder mit meiner Mutter auf dem Pferdewagen in die Tschechoslowakei geflohen. Unterwegs hat das Pferd schlapp gemacht und wir sind eine Woche zu Fuß gelaufen. Wir waren dann aber nur einige wenige Tage dort und konnten dann schon wieder zurück in unser Dorf. Mein Vater war schon vor uns wieder dort und hatte schon alles, was zerstört wurde, neu aufgebaut.

 

Die erste Flucht begann auf dem Pferdewagen

Der Pferdewagen machte den Transport der Habseligkeiten auf der Flucht leichter.

 

Und wie ging es dann in eurem Dorf weiter?

Als wir wieder zurück waren, kamen Polen, die wir aufnehmen mussten und das Dorf wurde den Polen überschrieben. Die Polen sind dann in unser Haus mit eingezogen und wir mussten denen Zimmer abgeben. Das war dann getrennt, jeder hat für sich gewohnt – ungefähr ein Jahr lang. Die Polen waren sehr nette Leute. Die mussten auch aus ihrer Heimat fliehen und als es dann soweit war, dass wir wieder fliehen mussten, haben sie geweint und gesagt: „Bleibt ihr hier, wir wollen doch wieder nach Hause.“ Das ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben.

Wann seid ihr das nächste Mal geflohen?

Das war im Mai 1946. Wir konnten nur mitnehmen, was wir tragen konnten. In unserem Nachbardorf gab es einen Bahnhof und hier mussten wir in Viehwagons steigen. Es war eng, dunkel und wir wussten nie wohin es geht. So haben wir viele Stationen hinter uns gebracht, von Lager zu Lager – nach ein paar Nächten mussten wir immer wieder in diese Viehwagons. Schließlich sind wir in Neheim am Bahnhof angekommen und von dort mit einer Kleinbahn nach Sundern gefahren. Am 26. Juni 1946 sind wir in Sundern angekommen. Bis dahin haben wir einmal Deutschland durchquert und überall das Elend des Krieges gesehen. Nirgends gab es genug zu essen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie es ist, richtig Hunger zu haben.

Und wie wurdet ihr in Sundern aufgenommen?

Hier gab es ein großes Flüchtlingslager, in dem es für jede Familie zwei Zimmer in einer Baracke gab. Hier wurde dann auch mein kleinster Bruder geboren. Es gab eine Anlaufstelle, bei der man sich mit Kleidung und wichtigen Dingen eindecken konnte. Eines Tages holte mein Vater dort Babysachen ab. Vorher hatten wir Kinder gar nicht mitbekommen, dass wir noch ein Geschwisterchen bekommen.

Wurden ihr von den Menschen hier akzeptiert oder gab es auch schlechte Reaktionen?

Ich weiß noch, dass Fronleichnam war, als wir in Sundern ankamen und die Stadt war geschmückt. Das fand ich sehr schön. Die Menschen waren alle nett zu uns. Sie sind uns entgegengekommen und wir hatten endlich wieder genug zu essen und mussten nicht mehr Hunger leiden.

Seid ihr nach der Ankunft direkt zur Schule gegangen?

Ja, das sind wir. Hier gab es auch direkt Schulspeisen, das war gut. Es waren ja viele geflüchtete Kinder dabei. Wir hießen immer die „Rucksack-Deutschen“, weil wir nicht mehr als einen Rucksack mitbringen konnten. Nach und nach haben sich die Freundschaften gut durchmischt.

 

Friedliche Familienidylle in Schlesien

Meine Oma als Säugling in einer friedlichen Zeit in Schlesien.

 

Habt ihr zuerst noch gedacht, dass ihr wieder zurückkönnt oder war direkt klar, dass Sundern eure neue Heimat wird?

Ja ich glaube schon. Es hat ja einige Zeit gedauert, bis das zwischen Deutschland und Polen geregelt war. Irgendwann war dann aber ganz klar, dass wir nie wieder zurückgehen würden. Man war ja noch ein Kind und hat sich schnell zurechtfinden können. Für die Eltern war das natürlich schwerer. Wir haben einen Lastenausgleich bekommen, wie jeder der in Schlesien Besitz hatte. Den wollte mein Vater nutzen, um für uns ein Haus in Sundern zu bauen. In Schlesien hatten wir genug Geld, aber die Polen und die Russen haben uns ja den ganzen Besitz genommen. Vor allem Uhren, das weiß ich noch. Meine Mutter hatte aber unser gespartes Geld die ganze Flucht über in einem versteckten Brustbeutel und so konnten wie das in Sundern noch nutzen.

Haben deine Eltern dann auch wieder einen Job gefunden?

Ja, aber mein Vater hat nicht mehr als Bäcker gearbeitet, sondern dann in einer Fabrik und meine Mutter hatte mehrere Wasch- und Putzstellen und ging auch noch zur Feldarbeit. Sie haben sich sehr ins Zeug gelegt, und uns mit dem eigenen Haus wieder ein Stück Heimat ermöglicht.

Weißt du noch, ab wann du dich hier wirklich Zuhause gefühlt hast?

Eigentlich habe ich mich direkt Zuhause gefühlt, weil wir da waren, wo Mama und Papa waren und dann war alles gut. Heute würde man das bestimmt anders empfinden.

 

Kindheitserinnerungen aus Schlesien

Meine Oma beim Spielen mit dem Puppenwagen im Heimatdorf Gusten.

 

Denkst du heute gerne an die Zeit in Schlesien zurück oder verbindest du damit eher traurige Gedanken?

Ich denke gerne dran zurück. Meine Eltern haben die erste Zeit gar nicht drüber gesprochen. Für sie war es sehr schwer. Aber meine unbeschwerte Kindheit in Schlesien ist eine schöne Erinnerung. Ein Austausch über die Flucht, mit anderen aus Schlesien gab es erst nach und nach. Bei uns war es gar nicht so schlimm, einige aus unserem Dorf haben schlimmere Dinge erlebt.

Gab es später in deinem Leben Hindernisse, weil du aus Schlesien kommst?

Die größte Schwierigkeit war eigentlich, dass wir evangelisch waren und in Sundern alle katholisch waren. Früher wurde das ja noch sehr engstirnig gesehen. Heinz (das ist mein Opa), habe ich bei der Arbeit kennengelernt und als wir heiraten wollten, gab es von seinen und auch von meinen Eltern Probleme. Meine Eltern wollten sogar erst gar nicht zur Hochzeit kommen, weil die in der katholischen Kirche stattfand. Zum Glück konnten aber hinterer doch alle überzeugt werden, dass es richtig ist, dass wir heiraten. Hinterher war Heinz für meine Eltern das ein und alles.

 

Ein Besuch bei den Polen in der alten Heimat

Die Nachbarn meiner Oma haben das Dorf Gusten noch oft besucht.

 

Hast du deine alte Heimat nochmal wieder besucht?

Nein, ich selber nicht, aber unsere Nachbarn, die schon in Schlesien unsere Nachbarn waren, waren noch öfter dort. Sie haben erzählt, dass sie von den Polen sehr nett aufgenommen wurden. Mein Bruder war auch nochmal dort und hat gesagt, dass nichts mehr ist wie früher und wir anderen besser nicht hinfahren sollten.

Faszinierenden Zufälle

Tanjas Großeltern kamen übrigens auch aus Schlesien und meine Oma und Tanjas Oma Else kannten sich sehr gut und haben in der ersten Zeit in dem Flüchtlingslager genau gegenüber gewohnt. Da haben sie aber wohl noch nicht darüber nachgedacht, dass ich mal Tanjas Bruder heirate oder wir einen gemeinsamen Blog über unsere Heimat, das Sauerland auf die Beine stellen.

 

Hast du auch Verwandte oder Bekannte, die aus Schlesien geflüchtet sind?
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